Dieses Video gehört zum openHPI-Kurs Digitale Medizin – Was ist ethisch verantwortbar?. Möchten Sie mehr sehen?
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- 00:00Wir haben nun in den letzten Videos gesehen, dass eine Welt in Daten abgebildet uns aus ganz verschiedenen Gründen ein verzerrtes
- 00:07Bild liefern kann.
- 00:09Wenn Daten dann verwendet werden oder interpretiert werden, sei es bei der Zuteilung von Gesundheitsleistungen, kann es passieren,
- 00:16dass Menschen ungleich behandelt werden. Gibt es dafür keine triftigen Gründe, erscheint uns diese Ungleichbehandlung nicht
- 00:25gerecht. Hier sprechen wir aber eine wichtige Differenz an, nämlich die Differenz zwischen ungleich und ungerecht oder zwischen
- 00:33gleich und gerecht.
- 00:37Abstrahieren wir mal. Denken wir an eine alltägliche Situation. Wir backen einen Kuchen und fragen, wer bekommt was?
- 00:45Hier könnten wir schnell zu dem Urteil kommen.
- 00:47Na ja, gerecht ist es schon, wenn jeder das gleiche Stück Kuchen bekommt.
- 00:52Schnell merken wir, aber vielleicht ist es nicht immer so einfach.
- 00:55Vielleicht könnten wir sagen, na ja, die, die besonders hungrig sind, die verdienen mehr, da es dann Bedarf.
- 01:04Ein Kriterium bei der Verteilung von Kuchen.
- 01:07Vielleicht sagen wir auch, die Person, die den Kuchen gebacken hat, die sollte zumindest ein größeres Stück bekommen. Hier
- 01:13wäre es der Verdienst oder Anteil an diesem Kuchen, der zu einem Kriterium wird.
- 01:18Oder wir sagen, der Joschka, die hat die letzten 23 Mal immer kein Stück Kuchen bekommen.
- 01:23Das ist eine Ungerechtigkeit, man kann ja von einer historischen Ungerechtigkeit sprechen.
- 01:28Und zur Wiedergutmachung dieser Ungerechtigkeit bekommt er heute ein besonders großes Stück.
- 01:34Der Kuchen ist freilich nur eine Metapher.
- 01:36Es geht im Wesentlichen um die Verteilung von Gütern.
- 01:39Entscheidend ist, dass wir hier aber sehen, dass nicht jede Ungleichheit auch ungerecht sein muss.
- 01:45Fragen wir etwa, warum verdient Anna denn mehr als Paul?
- 01:49So gibt es sicher bessere und schlechtere Antworten.
- 01:52Schlechtere Antworten wären: Anna verdient mehr als Paul, weil sie eine Frau ist oder weil sie rote Haare hat.
- 01:57Bessere Antworten können sein:
- 01:59Anna verdient mehr als Paul, weil sie besser qualifiziert ist, weil sie vielleicht mehr Verantwortung trägt oder weil sie
- 02:05mehr leistet.
- 02:07Implizit scheint das sehr plausibel, aber es weist uns darauf hin, wir bedürfen eines normativen Kriteriums, wenn wir von
- 02:14Ungerechtigkeit sprechen und nicht nur von Ungleichheit.
- 02:20Über diese verschiedenen Kriterien und die verschiedenen Bedeutungen von Gerechtigkeit.
- 02:24Da gibt es eine richtig lange philosophische Tradition, und es ist ziemlich faszinierend.
- 02:29Denn tatsächlich bis heute maßgebend für den Begriff der Gerechtigkeit war der antike Philosoph Aristoteles, und Aristoteles
- 02:38hat in seiner nikomachischen Ethik verschiedene Begriffe unterschieden.
- 02:42Und das ist schon ziemlich krass.
- 02:43Denn er hat dieses Buch etwa 300 vor Christus geschrieben.
- 02:47Und trotz der Sprachbarrieren und mehr als 2000 Jahren Abstand können wir noch ziemlich gut nachvollziehen, was Aristoteles
- 02:54hier unterscheidet, wenn er von verschiedenen Sinnen von der Gerechtigkeit spricht. Zum einen meint er hier, dass es eine
- 03:01Art von allgemeiner Gerechtigkeit gibt. Der iustitia universalis hier meint er, ist Gerechtigkeit, wenn eine Person zum Beispiel
- 03:11Gesetz und Sitte erfüllt, also eine vollkommene Tugend hat.
- 03:15Wir spüren, dass heute noch diese Bedeutung von Gerechtigkeit, wenn wir etwa von einem gerechten Menschen oder einem rechtschaffenen
- 03:22Menschen sprechen. Von dieser allgemeinen Gerechtigkeit unterscheidet Aristoteles nun die besondere Gerechtigkeit, die iustitia
- 03:31particularis, und die teilt sich, zumindest für unseren Zweck, genügt diese Unterscheidung in zwei Dimensionen auf, nämlich
- 03:38zum einen in die ausgleichende Gerechtigkeit und in die austeilende Gerechtigkeit. Bei der ausgleichenden Gerechtigkeit geht
- 03:48es nun um eine Gerechtigkeit, zum Beispiel beim Handel von Waren.
- 03:51Es geht hier immer um einen Ausgleich oder auch um eine Wiedergutmachung, zum Beispiel bei Strafe. Bei der austeilenden Gerechtigkeit,
- 03:59der iustitia
- 04:00distributiva geht es um die Verteilung, zum Beispiel von Gütern, von Ämtern oder auch von Kuchen.
- 04:07Das Besondere ist hier nun, dass bei der ausgleichenden Gerechtigkeit verlangt wird, dass ein Zustand der arithmetischen
- 04:14Gleichheit hergestellt wird.
- 04:16Vereinfacht gesagt: Es ist gerecht, wenn ich für eine Ware genau das Geld bekomme, was die Ware wert ist. Bei der austeilenden
- 04:25Gerechtigkeit, die ist nun auf eine Idee von proportionaler Gleichheit bei der Verteilung anhand eines Kriteriums gerichtet.
- 04:33Das kann bedeuten, dass es eben gerade gerecht sein kann, dass nicht jeder das Gleiche bekommt.
- 04:38Denkt an den Kuchen zurück.
- 04:39Vielleicht ist es eben genau richtig, dass der, der mehr Hunger hat, auch mehr Kuchen erhält.
- 04:47Betrachten wir nun heutige Gerechtigkeitstheorien und Diskurse.
- 04:52Diese orientieren sich häufig an der Idee der distributiven Gerechtigkeit, also der iustitia distributiva bei Aristoteles.
- 05:00Hier geht es vor allem eben um diese faire Verteilung von Ressourcen, Chancen und Gütern.
- 05:06Zudem ist, ganz ähnlich wie bei der iustitia particularis von Aristoteles, die soziale Dimension im Zentrum der Rede von
- 05:14Gerechtigkeit.
- 05:15Es geht ja häufig um Ansprüche, es geht um bestimmte Rechte, die ich gegenüber anderen geltend machen kann.
- 05:22Etwas anders als bei Aristoteles, bedenkt er, lebte er in der Antike in einer Art Kasten-Gesellschaft, in einer Gesellschaft,
- 05:28in der es auch Sklaverei gab.
- 05:30Anders als damals gehen wir heute allerdings von einer Gleichheit, einer prinzipiellen Gleichheit von Menschen aus, und damit
- 05:38verbindet sich der Anspruch an eine Überparteilichkeit im Zusammenhang mit Gerechtigkeit. Das heißt nun eben gerade nicht,
- 05:45dass alle Gleiches bekommen müssen, aber es bedeutet, dass alle eine moralische Gleichbehandlung erfahren, unabhängig von
- 05:53ihren persönlichen Unterschieden. Das ist im Wesentlichen der Kern der modernen Idee der Gerechtigkeit, und diese Gerechtigkeit
- 06:01wird mitunter bezeichnet als Gerechtigkeit als Fairness.
- 06:07Gerechtigkeit als Fairness.
- 06:09Diese Formulierung geht nun zurück auf den US-amerikanischen Philosophen John Rawls und sein gleichnamiges Hauptwerk beziehungsweise
- 06:16die Theorie der Gerechtigkeit, or Theory of Justice. Rawls ist eine ganz bemerkenswerte Figur.
- 06:23Wir haben leider zu wenig Zeit, um seine Theorie im Detail heute hier zu entwickeln.
- 06:27Ich möchte nur darauf hinweisen, dass er maßgeblich dazu beigetragen hat, dass im 20. Jahrhundert Gerechtigkeitstheorien wieder
- 06:34aufgekommen sind.
- 06:36Und in seiner Theorie der Gerechtigkeit skizziert er detailliert, wie eine Gesellschaft gestaltet sein muss, damit wir sie
- 06:42als gerecht bezeichnen können.
- 06:45Rawls bedient sich hierzu der Gedankenexperimente.
- 06:49Das hatten wir schon häufiger im Kurs.
- 06:51Sein Gedankenexperiment nennt sich nun Schleier des Nichtwissens, und dieser Schleier des Nichtwissens findet in einem sogenannten
- 06:58Urzustand statt.
- 07:02Es geht hier im Wesentlichen darum, dass bei der Aushandlung von gesellschaftlichen Verteilungsregeln, also wie Ressourcen
- 07:09verteilt werden sollen.
- 07:11Imaginiert wird in dem Gedankenexperiment, dass Personen hinter diesem Schleier des Nichtwissens nicht um ihre eigene Position
- 07:19in der Gesellschaft wissen.
- 07:21Sie müssen also den Kuchen verteilen, wissen aber gar nicht, wer sie eigentlich sind und welches Stück des Kuchens
- 07:26sie bekommen.
- 07:29Die Personen haben also keine Kenntnisse hinter dem Schleier des Nichtwissens über ihren eigenen Körper, über ihr eigenes
- 07:35Alter, über ihr eigenes Einkommen, ihre Gesundheit, ihre Klasse. Sie haben aber Kenntnisse über soziale, wirtschaftliche
- 07:41und psychologische Rahmenbedingungen, und sie wissen auch, es gibt Unterschiede zwischen Menschen, zum Beispiel ökonomische
- 07:49Unterschiede.
- 07:51In diesem Gedankenexperiment hinter dem Schleier des Nichtwissens sollen sich Menschen nun also überlegen, wie eine gerechte
- 07:57Verteilung, wie gerechte Kriterien der Verteilung, eine gerechte Gesellschaft gar aussehen kann.
- 08:02Der Clou ist hier nun: hinter dem Schleier des Nichtwissens im Urzustand, da müssen die Menschen gar nicht moralisch sein, das
- 08:09soll eigentlich jeder an sich denken und das tun, was seinen Interessen entspricht, denn am Ende des Tages weiß man ja gar
- 08:17nicht, wer man in der echten Gesellschaft ist. Was würdest du zum Beispiel sagen: Wie hältst du es mit der Verteilung von Gesundheits-
- 08:25ressourcen hinter dem Schleier des Nichtwissens?
- 08:27Wenn du nicht weißt, ob du gesund bist oder chronisch krank? Oder wie hältst du es mit Gebäudearchitektur, mit Barrierefreiheit
- 08:34von Gebäuden, wenn du nicht weißt, ob du in der wirklichen Gesellschaft, wenn der Schleier gelüftet wird, auf einen Rollstuhl
- 08:40angewiesen bist? Ihr könnt euch gern mal diese Fragen stellen, ich zeige euch, was Rawls nun meint, auf was für Grundsätze
- 08:47der Gerechtigkeit sich entsprechende Personen in dieser Situation des Urzustandes hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen
- 08:54würden.
- 08:56Rawls' Schlussfolgerung ist nun: Da keine Parteinahme möglich ist, wäre es rational, wenn sich alle auf folgende Regeln einigen:
- 09:04Zum einen sollen alle Personen in den Genuss eines Systems größtmöglicher Grundfreiheiten kommen, und zum anderen sollten
- 09:12Ungleichheiten, die sich zum Beispiel ergeben, durch die unterschiedliche Position: Die Personen bekommen unterschiedliche
- 09:18Aufgaben und Privilegien. Diese Ungleichheiten, die unweigerlich entstehen, sollen nur insofern zulässig sein, wenn sie den am
- 09:25wenigsten Begünstigten am meisten nützen, also die am schlechtesten Gestellten sollen durch Ungleichheiten sozusagen gehoben
- 09:33werden. Ungleichheiten sind dann gerecht, wenn sie den am wenigsten Begünstigten nützen.
- 09:39Rawls argumentiert hier für ein Kriterium der Gerechtigkeit, das aus einem Prozess abgeleitet wird, und dieser Prozess der
- 09:46kann Fairness garantieren.
- 09:49Es ist im Wesentlichen vergleichbar mit einer Situation, wo zwei Personen einen Kuchen schneiden: Der eine schneidet, der
- 09:55andere darf das Stück wählen.
- 09:57Die Verteilung findet hier statt, ohne dass wir klar wissen, wer welches Gut bekommt.
- 10:01Und damit kann die Verteilung in gewisser Weise durch diese Prozedur als gerecht gelten.
- 10:07Mit dieser Theorie, mit der Theorie der Gerechtigkeit und der Idee von Gerechtigkeit als Fairness, hat Rawls bleibenden Eindruck
- 10:13hinterlassen. In den vergangenen 50 Jahren, seitdem er dieses Buch geschrieben hat, haben sich viele an ihm abgearbeitet,
- 10:19aber keiner ist an ihm vorbeigekommen.
- 10:21Auch wir werden im Folgenden nicht an Rawls vorbeikommen.
- 10:24Aber wir müssen etwas Übersetzungsarbeit leisten, etwas Übersetzungsarbeit für das digitale Zeitalter, und wie Gerechtigkeit
- 10:31im Zuge von Digitalisierung in der Medizin aussehen kann,
- 10:35darum soll es in den folgenden Videos gehen.
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Über dieses Video
Gerechtigkeit hat eine lange philosophische Geschichte, mit der wir uns hier ein wenig auseinandersetzen
Weiterführende Hinweise und Literatur
- Einen umfassenden Überblick zum Thema Gerechtigkeit gibt der Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: Miller, D. (2023). Justice. In E. N. Zalta & U. Nodelman (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2023). Metaphysics Research Lab, Stanford University. https://plato.stanford.edu/archives/fall2023/entries/justice/